Karin Mörgelin

Die Entscheidung

Jetzt fängt es an. Endlich der Anfang. Zuerst hatte ich es gespürt, es gab noch gar keinen Anlass. Einfach ein Gefühl in mir. Tief drinnen. Gut, wir hatten auch darüber gesprochen am Mensatisch: Kund, Can, Saman und ich. Vor uns klebrige Spiralnudeln mit Tomatensauce und etwas Käse. Es war schon eine Weile nach der Mittagessensausgabe und nur noch wenige Studenten befanden sich in dem modernen, funktionalen Raum aus Glas und Beton. Meine Freunde sagten: „Tarek, entscheide dich. Entweder musst du endlich ankommen oder du gehst zurück.“ Aber das war es nicht, was mir das Gefühl gab, dass eine Veränderung bevorstand. Noch nicht.

Ich stand auf, um mir noch einen Tee zu holen. Obwohl er eigentlich scheußlich schmeckte, dieser wässrige, lauwarme Tee in der Mensa. In der kurzen Schlange an der Kasse stand vor mir eine Studentin, die offensichtlich zu viel auf ihr Tablett geladen hatte und jetzt nach mehr Geld in ihrer Tasche kramte. Mein Tee würde kalt sein, bis ich wieder am Tisch bin. Ungeduldig fing ich an, mich zu räuspern. Sie blickte mir plötzlich genervt direkt ins Gesicht. Aber hinter diesen blitzenden Augen sah ich etwas: Den Anfang – hier war endlich der Anfang!

Ich hätte sie als hübsch bezeichnet. Nicht schön. Der Mund ein wenig zu groß, das Kinn ein Hauch zu breit, dafür grün-braune Augen, die mich in den Bann gezogen hatten. Der Ausdruck in meinem Gesicht musste sie ein wenig aus der Fassung gebracht haben. Die Wut wich einer Verwirrtheit, die von der Kassiererin unterbrochen wurde: „Was is nu' mit den neun fuffzich?“ Auf den Kopf gefallen war sie nicht: „Na, was wird wohl mit ihnen sein? Verstecken sich noch immer in meiner Geldbörse.“ Dann ging sie wieder daran, ihr Portemonnaie aus ihrer Tasche zu fischen und es gelang ihr schließlich, das Essen und die Getränke zu bezahlen. Mich schien sie derweil bereits wieder vergessen zu haben. Sie nahm ihr Tablett und ging zügig auf einen Tisch zu, an dem eine andere junge Frau auf sie wartete. Ich bezahlte und kehrte mit meinem lauwarmen Getränk an den Tisch meiner Freunde zurück.

„Was war denn das eben?“, fragte Can. „Keine Ahnung, von was du redest“, antwortete ich und widmete mich meinem Tee. Aber auch die anderen hatten offenbar bemerkt, dass etwas an der Essensausgabe vorgefallen war. Saman feixte:“Hey, willst du die beiden Mädchen nicht zu uns an den Tisch einladen?“ Ich antwortete mit einem herablassenden Blick. „Du kannst ja gehen, wenn du hier jemand aufreißen willst, aber mich lass in Ruhe.“ Die anderen lachten. Eigentlich wäre ich nur zu gerne hingegangen und hätte das Mädchen zumindest angesprochen, aber ich hatte nicht den Mumm. Ich wäre mir blöd vorgekommen. Es war zu grob. Stillos. So sollte der Anfang nicht beginnen. Aber wie dann?

Als wir die Mensa verließen, schaute ich noch einmal zu dem Tisch, an dem die Mädchen saßen, aber niemand erwiderte meinen Blick. Auch gut so, tröstete ich mich. Sie war noch so jung, vielleicht zweiundzwanzig, dreiundzwanzig und vielleicht im 4. oder 5. Semester. Ich war schon zweiunddreißig und konnte mich bisher noch nicht einmal aufraffen, mich einzuschreiben, geschweige denn, meinem Leben eine Richtung zu geben. Was sollte dieses Mädchen mit jemandem wie mir? Ich drehte mich um zu den anderen und verließ das Gebäude. Wir überquerten den ausladenden kahlen Asphaltplatz vor der Mensa in Richtung Stadtmitte. Draußen wehte ein frischer Wind aus Osten. Der Himmel war wolkenlos und fast so blau wie bei uns zu Hause. Ich war jetzt schon fast ein Jahr in Deutschland. Ein Therapieversuch folgte dem anderen. Medizinische Untersuchungen, psychologische Behandlungen, medikamentöse Versuche. Nichts war wirklich erfolgreich. Ich hatte es langsam satt. Das Sommersemester ging dem Ende zu und bald war wieder Gelegenheit, sich zu immatrikulieren. Wenn ich mich entscheiden sollte, noch hier zu bleiben.

Es war nun wirklich an der Zeit, mir einen Ruck zu geben. Mich zu entscheiden, was ich tun wollte. Entweder ich brach meinen Aufenthalt in Deutschland ab oder ich fing hier etwas an, das mich auf eigene Füße stellte. Die anderen studierten bereits im dritten und vierten Semester. Wirtschaft, Recht und Architektur. Aber das war alles nichts für mich. Ich war nach Deutschland gekommen, um gesund zu werden. Und ich fühlte mich noch nicht gesund. Meiner Familie, ohne etwas zu tun, auf der Tasche zu liegen, gefiel mir allerdings auch nicht. Ich musste etwas tun! Anfangen: aber was? Ein Studium wäre zumindest eine Option.

„Kommst du morgen Abend auch zu Kati?“, fragte mich Kund. „Mal sehen, wie ich mich fühle. Ist ja doch immer das Gleiche.“ „Nun hör schon auf, immer so rum zu maulen, Tarek. Schau dich doch mal an. Du hast schon Falten im Gesicht wie mein Alter. Cheer up, man! Du nervst.“ Die anderen pflichteten ihm bei und so ging ich wortlos neben ihnen her zurück in die Wohnung in der Wilhelmstraße, die ich mir mit Kund teilte. Die anderen setzten sich noch in die Küche und bewerteten ihre Erfolgsaussichten in einer Discothek, die vor etwa einem Monat in M. eröffnet worden war. Aber ich zog mich in mein kleines Zimmer zurück, legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Ganz so schlecht drauf, wie die anderen sagten, fühlte ich mich gar nicht.

Ich hatte ein gutes Gefühl und das lag auch daran, dass ich an der Decke ihr Gesicht sehen konnte. Es war voller Energie. Die wachen Augen sprühten vor Witz und Lebenslust. Ihr Mund immer bereit, Widerworte zu geben. Aber es war keine Spur von Boshaftigkeit dabei. Keine Aggression in den Mundwinkeln. Eher eine Bereitschaft, gleich wieder zu lachen und fröhlich zu sein. Etwas an ihr berührte mich. Sie würde wiederkommen und sie würde noch lange bei mir bleiben. Daran glaubte ich fest. Sie war der Anfang, den ich brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber es gab auch einen Haken.