Jetzt fängt es an. Endlich der Anfang. Zuerst hatte ich es gespürt, es
gab noch gar keinen Anlass. Einfach ein Gefühl in mir. Tief drinnen.
Gut, wir hatten auch darüber gesprochen am Mensatisch: Kund, Can,
Saman und ich. Vor uns klebrige Spiralnudeln mit Tomatensauce und
etwas Käse. Es war schon eine Weile nach der Mittagessensausgabe und
nur noch wenige Studenten befanden sich in dem modernen, funktionalen
Raum aus Glas und Beton. Meine Freunde sagten: „Tarek, entscheide
dich. Entweder musst du endlich ankommen oder du gehst zurück.“ Aber
das war es nicht, was mir das Gefühl gab, dass eine Veränderung
bevorstand. Noch nicht.
Ich stand auf, um mir noch einen Tee zu holen. Obwohl er eigentlich
scheußlich schmeckte, dieser wässrige, lauwarme Tee in der Mensa. In
der kurzen Schlange an der Kasse stand vor mir eine Studentin, die
offensichtlich zu viel auf ihr Tablett geladen hatte und jetzt nach
mehr Geld in ihrer Tasche kramte. Mein Tee würde kalt sein, bis ich
wieder am Tisch bin. Ungeduldig fing ich an, mich zu räuspern. Sie
blickte mir plötzlich genervt direkt ins Gesicht. Aber hinter diesen
blitzenden Augen sah ich etwas: Den Anfang – hier war endlich der
Anfang!
Ich hätte sie als hübsch bezeichnet. Nicht schön. Der Mund ein wenig
zu groß, das Kinn ein Hauch zu breit, dafür grün-braune Augen, die
mich in den Bann gezogen hatten. Der Ausdruck in meinem Gesicht musste
sie ein wenig aus der Fassung gebracht haben. Die Wut wich einer
Verwirrtheit, die von der Kassiererin unterbrochen wurde: „Was is nu'
mit den neun fuffzich?“ Auf den Kopf gefallen war sie nicht: „Na, was
wird wohl mit ihnen sein? Verstecken sich noch immer in meiner
Geldbörse.“ Dann ging sie wieder daran, ihr Portemonnaie aus ihrer
Tasche zu fischen und es gelang ihr schließlich, das Essen und die
Getränke zu bezahlen. Mich schien sie derweil bereits wieder vergessen
zu haben. Sie nahm ihr Tablett und ging zügig auf einen Tisch zu, an
dem eine andere junge Frau auf sie wartete. Ich bezahlte und kehrte
mit meinem lauwarmen Getränk an den Tisch meiner Freunde zurück.
„Was war denn das eben?“, fragte Can. „Keine Ahnung, von was du
redest“, antwortete ich und widmete mich meinem Tee. Aber auch die
anderen hatten offenbar bemerkt, dass etwas an der Essensausgabe
vorgefallen war. Saman feixte:“Hey, willst du die beiden Mädchen nicht
zu uns an den Tisch einladen?“ Ich antwortete mit einem herablassenden
Blick. „Du kannst ja gehen, wenn du hier jemand aufreißen willst, aber
mich lass in Ruhe.“ Die anderen lachten. Eigentlich wäre ich nur zu
gerne hingegangen und hätte das Mädchen zumindest angesprochen, aber
ich hatte nicht den Mumm. Ich wäre mir blöd vorgekommen. Es war zu
grob. Stillos. So sollte der Anfang nicht beginnen. Aber wie dann?
Als wir die Mensa verließen, schaute ich noch einmal zu dem Tisch, an
dem die Mädchen saßen, aber niemand erwiderte meinen Blick. Auch gut
so, tröstete ich mich. Sie war noch so jung, vielleicht
zweiundzwanzig, dreiundzwanzig und vielleicht im 4. oder 5. Semester.
Ich war schon zweiunddreißig und konnte mich bisher noch nicht einmal
aufraffen, mich einzuschreiben, geschweige denn, meinem Leben eine
Richtung zu geben. Was sollte dieses Mädchen mit jemandem wie mir? Ich
drehte mich um zu den anderen und verließ das Gebäude. Wir überquerten
den ausladenden kahlen Asphaltplatz vor der Mensa in Richtung
Stadtmitte. Draußen wehte ein frischer Wind aus Osten. Der Himmel war
wolkenlos und fast so blau wie bei uns zu Hause. Ich war jetzt schon
fast ein Jahr in Deutschland. Ein Therapieversuch folgte dem anderen.
Medizinische Untersuchungen, psychologische Behandlungen,
medikamentöse Versuche. Nichts war wirklich erfolgreich. Ich hatte es
langsam satt. Das Sommersemester ging dem Ende zu und bald war wieder
Gelegenheit, sich zu immatrikulieren. Wenn ich mich entscheiden
sollte, noch hier zu bleiben.
Es war nun wirklich an der Zeit, mir einen Ruck zu geben. Mich zu
entscheiden, was ich tun wollte. Entweder ich brach meinen Aufenthalt
in Deutschland ab oder ich fing hier etwas an, das mich auf eigene
Füße stellte. Die anderen studierten bereits im dritten und vierten
Semester. Wirtschaft, Recht und Architektur. Aber das war alles nichts
für mich. Ich war nach Deutschland gekommen, um gesund zu werden. Und
ich fühlte mich noch nicht gesund. Meiner Familie, ohne etwas zu tun,
auf der Tasche zu liegen, gefiel mir allerdings auch nicht. Ich musste
etwas tun! Anfangen: aber was? Ein Studium wäre zumindest eine Option.
„Kommst du morgen Abend auch zu Kati?“, fragte mich Kund. „Mal sehen,
wie ich mich fühle. Ist ja doch immer das Gleiche.“ „Nun hör schon
auf, immer so rum zu maulen, Tarek. Schau dich doch mal an. Du hast
schon Falten im Gesicht wie mein Alter. Cheer up, man! Du nervst.“ Die
anderen pflichteten ihm bei und so ging ich wortlos neben ihnen her
zurück in die Wohnung in der Wilhelmstraße, die ich mir mit Kund
teilte. Die anderen setzten sich noch in die Küche und bewerteten ihre
Erfolgsaussichten in einer Discothek, die vor etwa einem Monat in M.
eröffnet worden war. Aber ich zog mich in mein kleines Zimmer zurück,
legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Ganz so schlecht
drauf, wie die anderen sagten, fühlte ich mich gar nicht.
Ich hatte ein gutes Gefühl und das lag auch daran, dass ich an der
Decke ihr Gesicht sehen konnte. Es war voller Energie. Die wachen
Augen sprühten vor Witz und Lebenslust. Ihr Mund immer bereit,
Widerworte zu geben. Aber es war keine Spur von Boshaftigkeit dabei.
Keine Aggression in den Mundwinkeln. Eher eine Bereitschaft, gleich
wieder zu lachen und fröhlich zu sein. Etwas an ihr berührte mich. Sie
würde wiederkommen und sie würde noch lange bei mir bleiben. Daran
glaubte ich fest. Sie war der Anfang, den ich brauchte, um wieder auf
die Beine zu kommen. Aber es gab auch einen Haken.